„Rasse“ als globaler Datenstrom: Die Hamburger Anthropologie des 20. Jahrhunderts als Ausgangspunkt einer Datengeschichte der Rassifizierung

Für Walter Scheidt war „Rasse“ weder ein abstrakter noch ein metaphysischer Begriff. „Sogenannte Rassensysteme und Bilderbücher“ waren für ihn keine geeigneten Mittel seiner Repräsentation. Man solle die „Volksgemeinschaft“ nicht in „Wolkenkuckucksheim – oder in leeren Worten suchen“, so Scheidt im August 1933 in der Kölnischen Zeitung (Scheidt 1933: 2–3). „Rasse“ war damit ebenso wenig in den Messreihen der physischen Anthropologie zu finden, die er im Anschluss an Eugen Fischer kritisierte. „Volk und Rasse“ – so auch der Titel einer Zeitschrift, die Scheidt 1925 begründete – waren für ihn konkrete biologische Entitäten: „Das Dasein einer Rasse ist wirklich real“ (Scheidt 1925: 341). Um sie zu erfassen, hatten Scheidt und seine Mitarbeiter:innen in der „rassenkundlichen Abteilung“ des Völkerkundemuseums, so ihr neuer Name (ab Oktober 1933 „Rassenbiologisches Institut“ an der Universität Hamburg)Footnote 11, eine „rassenbiologische“ Kartei aufgebaut. In massiven Schubschränken waren im Jahr 1932 bereits rund 500.000 Karten untergebracht. Sie speicherten Daten von „ca. 250.000 Personen“. Auf dieser Basis dachte Scheidt gar über eine „bevölkerungsbiologische Zentralkartei des deutschen Volkes“ nach. In dieser wäre „wirklich der ganze Volkskörper“ vertreten und „zur Auskunft an einem Ort anwesend“ (Scheidt 1932: 565–566).

In den 1920er und 1930er Jahren nahm Walter Scheidt eine „Spitzenposition“ (Roth 1984: 116) in der deutschen Anthropologie ein und übte großen Einfluss auf sie aus (Gausemeier 2008: 161). Nicht nur wurden seine „rassenkundlichen“ Studien Vorbild für besagten Forschungsantrag Eugen Fischers; vor allem wurde die dabei entwickelte Karteitechnik zu einem wichtigen Medium der „Erblehre“ sowie der NS-Rassenpolitik. Indes geriet Scheidt 1933 ins wissenschaftliche und politische Abseits. Seine Äußerungen über „Bilderbücher“ richteten sich auch gegen Hans F. K. Günthers (1891–1968) populäre Schriften zur „nordischen Rassenlehre“, die eine zentrale Stellung in nationalsozialistischen Vorstellungswelten einnahm (Essner 2002: 61–75). Walter Groß (1904–1945) vom Aufklärungsamt für Bevölkerungspolitik und Rassenpflege, dem Vorläufer des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP (RPA), drohte Scheidt im Jahr 1933 mit Forschungs- und Publikationsverbot.Footnote 12 In der Folge verlor Scheidt die Förderung für sein wichtigstes Forschungsprojekt – die Deutsche Rassenkunde (so auch der Name der daraus entstandenen Schriftenreihe). Vier Jahre später unterschrieb Groß jedoch gemeinsam mit „Reichsbauernführer“ Walther Darré (1895–1953) sowie dem Leiter des Nationalsozialistischen Lehrerbunds eine Vereinbarung zur Totalerfassung des deutschen Volkes „für rassenpolitische und sippenpflegerische Aufgaben“Footnote 13. Zentral dafür war jene von Scheidt erdachte und von seinem Mitarbeiter Wilhelm Klenck (1890–1959) verfeinerte Karteitechnik (Klenck & Kopf 1938).

Die Anfänge dieser Technik finden sich in einer Studie Scheidts auf Finkenwerder – in den 1920er Jahren noch eine Insel vor den Toren Hamburgs. Scheidt hatte sich, bevor er nach Hamburg kam, bei Rudolf Martin in München habilitiert. Die Abkehr von der physischen Anthropologie und die Hinwendung zur „Erblehre“ – das entsprach einer allgemeinen Tendenz innerhalb der deutschen Anthropologie (Proctor 1988: 147) – war jedoch bereits zu Beginn der 1920er Jahre erfolgt (Scheidt 1954: 3). Erste Ansätze empirischer Forschung in München setzte Scheidt in Hamburg fort. Dort hatte der Direktor des Altonaer Museums, Otto Lehmann (1865–1951), bereits im Jahr 1918 Desiderata der „biologisch-statistische[n] Forschung“ in der Feststellung des „Genotypus“ einzelner deutscher „Stämme“ erkannt (Lehmann 1918: 503). Über Lehmann erhielt Scheidt nicht nur finanzielle und ideelle Unterstützung, sondern vor allem Zugang zu regionalen Heimatforschern, so auch auf der Elbinsel Finkenwerder.Footnote 14 Im Jahr 1925 führten der Hamburger Anthropologe und seine Mitarbeiter:innen bereits in mehreren ländlichen Regionen, insbesondere in Niedersachsen, „rassenkundliche[…] Erhebungen“ durch.Footnote 15

Der Fokus auf rurale Gemeinden und die Kooperation mit Heimatvereinen und Genealogen entsprang Scheidts Verständnis von „Rasse“. Diese war für ihn ein „innerhalb der Art ausgelesener Eigenschaftskomplex“. Damit synthetisierte Scheidt das, was der Rassenhygieniker Alfred Ploetz (1860–1940) als „Vitalrasse“ bezeichnete – also „Etwas in der Erbmasse Liegendes“ – mit jenem typisierenden Konzept, das „Systemrasse“ genannt wurde: „die Ähnlichkeit einer Menschengruppe […], denn Auslese führt immer zu relativer Häufung“ (Scheidt 1925: 331–332). Diese Auslese von Merkmalen war jedoch über die bisherigen anthropologischen Datenpraktiken nicht zugänglich. So wie etwa in der psychiatrischen Forschung versucht wurde, über genealogische Daten mittelbar der „inneren Mechanik der Vererbung beim Menschen ein Stück weit auf die Spur zu kommen“, so wandte sich auch Scheidt der Genealogie zu. Sie erlaubte es, „historische Ereignisse rückblickend so zu analysieren, als habe es sich um Experimente gehandelt“ (Rheinberger & Müller-Wille 2009: 166). Anders ausgedrückt: Erst wenn die verwandtschaftlichen Beziehungen einer Menschengruppe vermeintlich eindeutig geklärt waren, konnte über eine anschließende Vermessung ihrer Körper auf jenen Prozess geschlossen werden, den Scheidt als Auslese von Eigenschaftskomplexen und damit als „Rasse“ bezeichnete.

Scheidts Forschungsprogramm basierte daher zunächst auf einem genealogischen Screening der Bevölkerung. Dabei bildeten Kirchenbücher den basalen Datensatz. Über diesen, so Scheidts Annahme, ließen sich „diejenigen altansässigen Teile der Bevölkerung“ erfassen, welche Scheidt als „Nachkommen der frühgeschichtlichen Bevölkerung des betreffenden Landesteils“ verstand (Scheidt & Wriede 1927: 121). Hatte sich Eugen Fischer noch beklagt, dass das „größte Rassenkreuzungsexperiment am Menschen“ in den USA ungenutzt abgelaufen sei, da es keine Daten hinterlassen hätte (Fischer 1913: 2), so bildeten Kirchenbücher den Ausgangspunkt für Scheidts Laboratorium der Vererbung. Sie ermöglichten die „Anwendung genetischer Fragestellungen“ (Scheidt 1929: 147). Kirchenbücher stellten – im Gegensatz zur Loseblattsammlung der physischen Anthropologie – einen bereits verschalteten Datensatz dar: sie enthielten „die Bevölkerung eines Wohngebietes in ihrem genealogischen Zusammenhang“. Die „bevölkerungsbiologische Verwertung der Kirchenbücher“ war daher, so Scheidt, die „vordringliche Aufgabe der Wissenschaft, insbesondere der Rassenbiologie“ (Scheidt 1929: 147–148).

In Form des gebundenen Buches enthielten die Kirchenbücher zwar den notwendigen Datensatz, jedoch musste dieser in ein anderes Medium übersetzt werden, um „rassenbiologisch“ auswertbar zu sein. Scheidt und seine Mitarbeiter:innen, insbesondere Irene Roethig und Wilhelm Klenck, erdachten dafür ein komplexes System der „Verkartung“. Sie überführten also die Kirchenbücher in die Form der Kartei (Scheidt 1929: 149–161). Letztere war zu Beginn der 1920er Jahre als Bürotechnik eine junge Form der Datenverarbeitung. Gab es zwar schon zuvor Zettelkästen, so entstand die Kartei in ihrer modernen Form als Bürotechnik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA, aber erst um „1900 kam die Kartei aus Amerika wieder zurück.“ (Porstmann 1950 [1922]: 13) Der Unterschied zwischen Buch und Kartei, womit letztere den „Grundoperationen einer Universalen Diskreten Maschine“ genügt – nämlich „Daten zu speichern, zu prozessieren und (selbst) zu übertragen“, bestand vor allem in der Beweglichkeit ihrer Datenträger (Krajewski 2017: 10). Aus diesem dynamischen Datenspeicher, der in der Buchhaltung zur Erfassung und Kontrolle von Waren- und Kapitalströmen diente, wurden bei Scheidt „Erbströme“, die sich „rassenbiologisch“ erfassen und bevölkerungspolitisch kontrollieren ließen.

Die Praxis der „Verkartung“ oder auch „Verzettelung“ meinte zunächst, dass der gesamte Inhalt der Kirchenbücher und damit „jeder Eintrag des Taufregisters, des Sterberegisters und des Verehelichungsregisters“ auf vorgedruckte Karteikarten à 9 × 12 Zentimeter (Abb. 3) übertragen wurde (Roethig 1927: 214).

Abb. 3figure 3

Vordruck zur Kirchenbuchverkartung der „rassenkundlichen“ Studie auf der Elbinsel Finkenwerder (Roethig 1927: 214)

Im Fall der Finkenwerder-Studie waren dies nach Scheidts Mitarbeiterin Irene Roethig, die das im Folgenden skizzierte Verfahren schilderte, rund 25.000 Karten. Es entstanden zunächst „drei Register (in getrennten Kästen handlich aufgestellt)“, die eine erste Ordnung des Materials in alphabetischer und zeitlicher Reihenfolge zuließen. Im Anschluss daran konnte Roethig die „genealogischen Zusammenhänge“ herstellen (Roethig 1927: 215–216). In der Tat war dafür die Beweglichkeit der Datenträger zentral. Ähnlich wie die Einführung der Zählkarte im preußischen Zensus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts neues Wissen über die Bevölkerung produzierte (Oertzen 2017), ermöglichte die Übersetzung der Kirchenbucheinträge in Karteiform erst, die Abstammung der Bevölkerung zu erfassen. So ließen sich durch Auslegen der Karten „Geschwisterreihen“ bilden. Roethig sortierte dafür die Taufbuchkarten nach Namen und verknüpfte diese mit der Kartei der Eheschließungen, während die Kartei der Sterbedaten zur Kontrolle diente. Im Anschluss nahm Roethig die „Aufstellung der Linien“ vor – also der familiären Zusammenhänge, an deren Ende die „graphische Darstellung“ in „Form von Familientafeln“ – also Stammbäumen – stand. In diesem Prozess erhielt jede erfasste Person eine Nummer, die sowohl im Stammbaum als auch auf den zugehörigen Karteikarten eingetragen wurde. Entlang dieser Nummern, die „die ganze Bevölkerung […] durchlaufen“, sortierte Roethig die Karten erneut und führte sie in einer Kartei zusammen: „In dieser Aufarbeitung wird das Kirchenbuch nun als Grundlage für bevölkerungs- und familienbiologische Untersuchungen brauchbar sein“ (Roethig 1927: 216–219).

Auf diese Weise war es nach Scheidt möglich, in kurzer Zeit und mittels einer simplen Abfrage „für bestimmte Personen in der Kartei die Zusammenhänge mit anderen Personen“ festzustellen. Bei einem „nichtverarbeiteten Kirchenbuch“ war dies „natürlich nicht möglich“ (Scheidt 1929: 152). Auch Scheidts Mitarbeiter Klenck betonte, dass die Kartei den „rein zeitlich nach Art eines Tagebuchs fortgeschriebenen Inhalt der Kirchenbücher“ in eine handhab- und auswertbare Ordnung überführte (Klenck & Kopf 1938: 6). Bereits das dergestalt aufbereitete Material ließ Schlüsse einer „genetische[n] Bevölkerungsbiologie“ zu. Etwa machte es Bevölkerungsbewegungen sowie „vorhandene Unterschiede in der Stärke der Fortpflanzung“ samt Hinweisen auf deren Ursachen sichtbar (Scheidt 1929: 174). Vor allem stellten diese Datenpraktiken erst jene altansässige Bevölkerung her, anhand derer Scheidt meinte, die Herausbildung von „Rassenmerkmalen“ erfassen zu können. So ließ die genealogische Datenverarbeitung die „Träger des Volkstums“ bestimmen: Nur wer „Spuren“ – also Daten – hinterließ, wurde zum Teil des „Volkskörper[s]“ erklärt; andere Personen galten „biologisch als ‚fremde‘ [sic!]“ (Scheidt 1929: 160–161). Erst an diese Selektion schloss sich die Vermessung mittels der von Martin entwickelten Technik an. Das von Scheidt im Karteiformat entwickelte Beobachtungsblatt (Abb. 4) sah jedoch nur neun und damit deutlich weniger morphologische Merkmale vor als die großformatigen Beobachtungsblätter Martins. „Rasse“ wurde also nicht – wie in der physischen Anthropologie – allein aus morphologischen Merkmalen abgeleitet, sondern aus Abstammungsgemeinschaften.

Abb. 4figure 4

Rückseite der von Scheidt entwickelten „Beobachtungskarte“, die Platz bot für neun Körpermaße sowie unter anderem für Angaben zur Haar- und Augenfarbe. Die auf der Vorderseite vorgenommene Nummerierung sowie die Angaben zu Verwandtschaftsverhältnissen verknüpfte die Karte mit dem genealogischen Datensatz (BL, Material der „rassenkundlichen“ Erhebungen in Lamstedt)

Erfolgte die Auswertung und Verarbeitung der „so gewonnenen Beobachtungen […] nach den allgemeinen Regeln rassenkundlicher Arbeitsweise“ (Scheidt & Wriede 1927: 132) – darin der physischen Anthropologie ähnlich –, so waren die Ergebnisse doch andere. Denn anstatt, um dies in aller Kürze herunterzubrechen, aus Mittelwerten der Körpermaße ahistorische „Typen“ oder „Rassen“ zu errechnen, erkannte Scheidt eine „auslesebedingte Häufung“ (Scheidt & Wriede 1927: 121) von Merkmalen, die er zu Ergebnissen eines langen evolutionären Prozesses erklärte. Über diesen gab die als altansässig hergestellte Bevölkerung mittelbar Auskunft. Insofern fielen bei Scheidt auch der Begriff vom „Volk“ im Sinne einer Abstammungsgemeinschaft und „Rasse“ wieder stärker in eins, da die morphologische Ähnlichkeit einer Gruppe und die generationsübergreifende Erhaltung derselben letztlich „Äußerung ein und desselben Dinges, nämlich der Rasse“ seien (Scheidt 1925: 332). So meinte Scheidt anhand seiner Finkenwerder-Studie den Beweis erbracht zu haben, dass „das, was heute für die ganze Bevölkerung als typisch angesehen werden muss, durch die im Laufe der Generationen erfolgende stärkere Fortpflanzung der Bewährungstüchtigen zum ‚Typus‘ wurde.“Footnote 16

Von Scheidts „rassenbiologischer“ Kartei im Hamburger Völkerkundemuseum, aus der obige Ergebnisse der Finkenwerder-Studie hervorgingen, ist nichts übrig geblieben. Einen mittelbaren Einblick bietet jedoch das „Archiv“, das Wilhelm Klenck während seiner von Scheidt beauftragten „rassenkundlichen“ Studie im niedersächsischen Lamstedt anlegte (Klenck 1934: 3). Offenbar ist ein Großteil jenes Datensatzes, der dem ersten Band der Deutschen Rassenkunde zugrunde lag (Scheidt & Klenck 1929), erhalten.Footnote 17 Klenck imitierte die Hamburger Kartei seines Lehrers. So findet sich hier auf abertausenden Kärtchen und in einzelnen Karteikästen geordnet die Kirchenbuchverkartung für die Jahre 1647 bis 1925. Insgesamt sind darin die genealogischen Daten von über 30.000 Personen gespeichert, zudem die daraus erarbeiteten Stammtafeln sowie die Daten der anthropometrischen Aufnahmen. Die Datensätze – genealogische Kartei, Stammtafeln, Körpervermessung – sind untereinander verknüpft. Dieses Datenarrangement ermöglichte Klenck, „tief in die Vergangenheit hineinzuleuchten und Auskunft zu geben über Bevölkerungszu- und -abnahme, Ausbreitung und Aussterben von Erbstämmen, Anteil ‚fremden‘ Blutes und Grad der Inzucht, sozialen Auf- und Abstieg der Familien u. a. m.“ (Klenck 1934: 6).

Als dynamische Datenspeicher brachten Karteien jedoch nicht nur neues Wissen über „Rasse“ hervor, sondern materialisierten auch zuvor nur gedachte Kategorien und prägten die Vorstellungen von ihnen. So schlug Scheidt Anfang der 1930er Jahre vor, eine „bevölkerungsbiologische Zentralkartei des deutschen Volkes“ einzurichten. In einem „zweigeschossigen Block von 120 × 120 m“ sollten rund 600 Millionen Karteikarten gespeichert werden. In dieser Kartei wäre, so Scheidt, „der ganze Volkskörper“ vertreten und „zur Auskunft an einem Ort anwesend“ – man „könnte in 2 Stunden daran vorbeigehen“. Das Volk ließ sich über die Kartei als tatsächlich Reales imaginieren, ja die Kartei erweckte es gar zum Leben: Sie sei ein „fein und schnell reagierendes ‚Manometer‘ für die Lebenserscheinungen des Volkskörpers“. Deutlich wird dabei zugleich, dass die Kartei Volk und „Rasse“ vor allem auch dem bevölkerungspolitischen Zugriff zuführten. So wäre die erdachte Zentralkartei „für viele unerläßliche Zukunftsaufgaben der Bevölkerungspolitik und Rassenhygiene von Vorteil“ (Scheidt 1932: 565–567). Dies war auch bereits explizites Ziel der „Deutschen Rassenkunde“, die, wie Eugen Fischer schrieb, eine für „bevölkerungspolitische Verwaltungs- und Gesetzesfragen unendlich wichtige Quellensammlung“ liefere.Footnote 18 Klenck verstand seine Datensammlung in Lamstedt als „Vorarbeit […] für bevölkerungspolitische und rassenpolitische Maßnahmen“ (Klenck 1934: 7).

Es ist somit wenig verwunderlich, dass jenes bereits in den 1920er Jahren auszumachende und vor allem auch außerhalb der Anthropologischen Abteilung des Hamburger Völkerkundemuseums gestiegene Interesse an genealogischer Datenverarbeitung in den 1930er Jahren und insbesondere ab 1933 sprunghaft zunahm (Schlumbohm 2018: 213–236; Gausemeier 1998: 82–95). Hinter diesem gestiegenen Interesse standen auch Gesetze, die der nationalsozialistische Staat mit seinen ersten Amtshandlungen erlassen hatte. Diese kodierten das Abstammungsdenken rechtlich und überführten es in eine rassistische Herrschaftspraxis – mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und dem Reichserbhofgesetz im Jahr 1933 sowie den Nürnberger Gesetzen von 1935. Ab 1933 bestand die Frage weniger darin, ob eine Totalerfassung der Bevölkerung mittels Verkartung vorgenommen werden sollte, sondern nur darin, wie dies technisch zu lösen sei. Die Kartei wurde zur rassistischen Herrschaftstechnik.

So wollte Achim Gercke (1902–1997), Sachverständiger für Rasseforschung beim Reichsministerium des Innern, „Rasse“ als „Strom des Ergbutes“ verstanden wissen. Eine „Sippenkartei für ganz Deutschland“ sollte diesen erfassen und eine „großzügige Rassenpolitik“ ermöglichen (Gercke 1933: 16–22). Kurt Mayer (1903–1945), im Jahr 1935 Nachfolger Gerckes und Leiter der nun in Reichsstelle für Sippenforschung (RfS) umbenannten Dienststelle, war pragmatischer: Er sah in der Verkartung vor allem eine Möglichkeit, den gesetzlich implementierten Abstammungsnachweis zu vereinfachen. Er hatte 1934 selbst eine Methode entwickelt, mittels welcher der Berliner Pfarrer Karl Themel die Kirchenbücher der Hauptstadt zu bevölkerungspolitischen Zwecken verkartete (Themel 1936). Ungefähr zeitgleich hatte der Reichsnährstand (RNS) in bayerischen Gemeinden nach einem anderen System zu verkarten begonnen.Footnote 19 Mittels der Methode Demleitner-Roth – so die Namen der Erfinder – sollte der im Reichserbhofgesetz verankerte Abstammungsnachweis vereinfacht werden. Der Nationalsozialistische Lehrerbund (NSLB) sprach sich Anfang des Jahres 1937 für die Methode Wilhelm Klencks aus und wollte diese zunächst im Gau Ost-Hannover umsetzen.Footnote 20

Insbesondere die RfS strebte Mitte der 1930er Jahre danach, die Datenerfassung zu vereinheitlichen. Während sie für die Methode Themel votierte, warb der Gauleiter Ost-Hannovers offensiv beim Reichsministerium des Innern für die Technik Klencks und Scheidts: „Da Kartei und die Sippentafeln durch ein Nummerierungsverfahren miteinander verbunden wurden, sind gesuchte Personen schnell zu finden.“ Ein Abstammungsnachweis mit 30 Ahnen ließe sich in rund einer Stunde ausstellen.Footnote 21 Vor den Toren Hamburgs fand daraufhin im März 1937 eine Tagung statt, an der auch RfS-Leiter Mayer teilnahm. Klenck trug nicht nur seine Methode vor; er hatte auch seine „Karteien, Tafeln und Fotografien auf einen Lastwagen nach Harburg“ geschafft und dort ausgestellt.Footnote 22 Die Methode, so hielt es das Protokoll fest, wurde als „praktisch richtig und zweckmässig“ erkannt. Wozu solche Karteien fähig seien, stellte RfS-Leiter Mayer sogleich klar: Es gelte besonders darauf zu achten, „wo Juden oder Fremdstämmige in den einzelnen Familien […] auftauchten“ – sie sollten gesondert erfasst und die Daten über Klenck an die RfS geleitet werden. In nächster Zeit würde nun die Methode Klenck auf weitere Gebiete ausgedehnt und eine „Reichsarbeitsgemeinschaft für Sippenforschung“ begründet.Footnote 23

Zog auch Mayer seine Zustimmung zu dieser Arbeitsgemeinschaft wieder zurück, unterzeichneten „Reichsbauernführer“ Darré sowie Groß vom RPA und der NSLB-Leiter Fritz Wächtler (1891–1945) im August 1937 ein Abkommen über ihre Gründung und damit über eine Totalerfassung mittels Kirchenbuchverkartung. Das gewählte Verfahren stellte einen Kompromiss zwischen der Methode Klencks und jener von Demleitner-Roth dar. Verkartet wurde nach Klenck, die so aufbereiteten Daten wurden dann sowohl nach Klenck als auch nach der Methode Demleitner-Roth verarbeitet. Klenck publizierte gemeinsam mit Ernst Kopf vom RNS eine umfangreiche Arbeitsanweisung, die das Verfahren beschrieb. Diese „Bestandsaufnahme“, so heißt es dort, versetze in die „Lage, jede Blutslinie auf ihre Erbwertigkeit, insbesondere im Hinblick auf Ausmerzung fremden und kranken Blutes, auf Auslese und Zucht zu untersuchen“ (Klenck & Kopf 1938: 8). Über 14.000 Mitarbeiter:innen begannen 1938 im gesamten Deutschen Reich mit der Verkartung.Footnote 24

Im Jahr 1939 waren mehr als 8,5 Millionen Karteikarten in 4000 Gemeinden ausgefüllt. Vollständig verkartet waren jedoch nur 319 Gemeinden.Footnote 25 Durch den Beginn des Zweiten Weltkriegs kam die Arbeit bald zum Erliegen. Wie wichtig die Totalerfassung jedoch aus Sicht der NS-Rassenpolitik war, zeigt sich darin, dass 1942/1943 ein erneuter Anlauf unternommen wurde, sie umzusetzen. Dieses Mal beteiligte sich neben der in Reichssippenamt umbenannten RfS und Akteuren aus dem Umfeld des RNS auch die SS-Führung. Folgt man Wolfram Pytas Analyse dieses erneuten Vorstoßes, eine „erbbiologische Zentrale“ einzurichten, dann vermittele diese „einen beklemmenden Vorgeschmack von der nach einem ‚Endsieg‘ im NS-Rassenstaat betriebenen Politik“ (Pyta 2001: 83–85).

Die Methode, die Scheidt erstmalig bei seiner Studie auf der Elbinsel Finkenwerder erprobt hatte und die den Grundstock für seine „rassenbiologische“ Kartei im Hamburger Völkerkundemuseum bildete, erstreckte sich im Jahr 1938 auf das gesamte Deutsche Reich. Scheidts Vorstellung einer Totalerfassung von Volk und „Rasse“ war tatsächlich in die Wege geleitet worden. Offiziell spielte Scheidt dabei keine Rolle. Er galt als „weltanschaulich nicht eindeutig“ – so hatte Klenck bei einer Besprechung vernommen.Footnote 26 Über Klenck, den Scheidt insbesondere im Frühjahr und Sommer 1937 beriet, spielte der aus ideologischen Gründen geschasste Anthropologe – aus zweiter Reihe – dennoch eine Rolle in der NS-Rassenpolitik: Er hatte eine Technik entwickelt, mittels derer Volk und „Rasse“ materialisiert und zum Gegenstand bevölkerungspolitischer Eingriffe werden konnten. Die Kartei ermöglichte als dynamischer Datenspeicher insofern nicht nur neue Praktiken der Datenspeicherung und -verarbeitung, die wiederum die Grundlage neuen Wissens und neuer Vorstellungen von Volk und „Rasse“ bildeten. Insbesondere die Beweglichkeit der Datenträger, die zudem bereits in der Kartei verschaltet waren, machte die hergestellten Differenzkategorien auch verwaltbar.

Comments (0)

No login
gif