Julius Hirschberg und die Geschichte der Augenheilkunde

Schon als Schüler unternahm Hirschberg, für die damalige Zeit ungewöhnlich, ohne seine Eltern Reisen in den Harz, nach Sachsen, Schlesien und Böhmen. Vor Aufnahme der klinischen Tätigkeit reiste er zu Studienzwecken, ganz wie sein Vorbild Albrecht von Graefe, nach Wien, Prag, Paris und London [4]. Das 19. Jahrhundert war von einem erheblichen Fortschritt bei Verkehr und Kommunikation geprägt. Reisen war für Hirschberg „die einzige wirkliche Quelle für die Beschreibung der eigenen Anschauung“ [10]. In seinen Lebenserinnerungen schrieb er 1923: „Heute, wo ich dies niederschreibe und auf 73 teils größere, teils kleinere Reisen zurückblicke, kann ich wohl behaupten, daß nächst der Schule und der Universität sowie dem eignen Studium nichts anderes soviel zu meiner Ausbildung beigetragen hat, als gerade das Reisen.“ [9] Dieses führte ihn neben Europa in 3 Kontinente: Afrika, Asien und Nordamerika. Sogar Spitzbergen hat er 1895 besucht und „schon die Anschauung der in’s Meer abfallenden Gletscher gewonnen“ [11]. Auf den Reisen, die er mit Schiff und Eisenbahn absolvierte, besuchte er Kollegen, Krankenhäuser und Sehenswürdigkeiten. Neben einigen kürzeren Reisebeschreibungen fertigte Hirschberg 5 große Reisemonografien an, wobei ihm seine stenografischen Kenntnisse sehr zugutekamen: Eine Woche in Tunis, 1885 [52], Von New York nach San Francisco, 1888 [10], Aegypten. Geschichtliche Studien eines Augenarztes, 1890 [51], Um die Erde, 1894 [14], Hellas-Fahrten, 1910 ([12]; Abb. 9).

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Titelblatt der „Hellas-Fahrten“ [12] mit persönlicher Widmung Hirschbergs an seine Schwester Johanna, 1910. (Archiv JMR)

Die „Hellas-Fahrten“ beschreiben 3 Griechenland-Reisen Hirschbergs 1886, 1890 und 1909. Bei den ersten beiden Reisen war seine Frau dabei. Hirschberg hat zahlreiche Sehenswürdigkeiten und Freunde besucht sowie die Natur erkundet. Das Buch ist nicht weniger als eine Liebeserklärung an Griechenland [7, 12]. Zu den alten Ärzten dort schrieb er 1922: „Noch heute, nach 2300 Jahren, sind die hippokratischen Schriften uns lebendig geblieben; die Stimme jener alten Ärzte klingt noch vernehmlich an unser Ohr. […] Wenn wir auch die praktische Heilkunde von ihnen nicht erlernen wollen, nicht erlernen können; so möchte ich doch als klinischer Lehrer darauf hinweisen, daß ihre getreue, naive Beobachtung des erkrankten Menschen noch heute mustergültig ist für den angehenden Arzt, und ein Gegengewicht bildet gegen die übergroße Macht des Laboratoriums, und daß die schöne Form ihrer Schriften mehr als einen bloßen Schmuck bedeutet.“ [53]

Von August 1892 bis Januar 1893 reiste Julius Hirschberg um die Erde und machte Station unter anderem in den USA, Japan, China, Sri Lanka (damals Ceylon) und Indien. Er schwärmte von den Meeren und dem Taj Mahal in Agra/Indien als „schönstem Gebäude Asiens“ und machte einige durchaus humorvolle Bemerkungen wie etwa „Der Japaner ist im Räuschchen nicht unliebenswürdig“. Auf seiner Erdumrundung legte Hirschberg in 171 Tagen 48.000 km zurück. Die genauen Distanzen und eine Reisekarte finden sich bei [7] und [14]. In „Um die Erde“ resümierte er im Jain-Tempel auf dem Berg Abu in Indien: „Die breitesten und tiefsten Meere habe ich durchschifft, in Sonnengluth und Sturmeswuth, die höchsten Berge habe ich geschaut; ich sah die wunderbarste Ueppigkeit des Pflanzenwuchses, die seltensten Thiere, die merkwürdigsten Menschen, ihre Sitten und Kunst, die herrlichsten und grossartigsten Bauwerke auf der Oberfläche des Planeten: doch nun sehne ich mich nach Hause, zu den Meinen, zu meiner Thätigkeit. […] Fast ist es mir, wie ein schöner Traum. Aber die wechselnden Bilder stehen lebendig vor meinem Auge. Mein Herz ist voll Dankbarkeit gegen das neunzehnte Jahrhundert, das die Entfernung vernichtet und solche Reisen ermöglicht hat.“ [14]

Über die USA, die er 3‑mal besuchte, schrieb Hirschberg 1888 in „Von New York nach San Francisco“: „Der Eindruck, den Amerika auf mich gemacht hat, ist ein günstiger. Es hat eine bedeutende Gegenwart und, wie auch ich überzeugt bin, eine noch bedeutendere Zukunft. Allerdings sind die amerikanischen Zustände nicht frei von Schattenseiten. […] Meine Überzeugung ist, dass wir vieles von den Amerikanern lernen können, – gerade so wie sie von uns.“ [11] Zum Yellowstone-Nationalpark meinte Hirschberg: „Fürwahr, er ist einer der wunderbarsten Gegenden der Erdoberfläche, selbst für den, welcher Vesuv und Aetna und manches andere gesehen.“ [10]

Virchow, Graefe und Hirschberg waren sich einig: „Die Wissenschaft ist ein Eigenthum der ganzen Menschheit und nicht das eines einzelnen Volkes.“ [54] Auf den internationalen Charakter seiner Klinik wurde bereits eingegangen. Im Jahr 1915 schrieb Julius Hirschberg in seinem „Centralblatt“ über die ersten internationalen Ophthalmologen-Kongresse und damit über die frühen Bestrebungen um eine internationale Ophthalmologie: „Die Übelstände, welche sich allmählich in die Kongresse einnisteten, bezogen sich hauptsächlich auf nationale Eifersüchteleien, die immer mehr sich ausbreiteten und zunahmen, auf die Sprachenfrage, auf die störenden Vergnügungen.“ [16]

Nach Ausbruch des 1. Weltkriegs veröffentlichte Hirschberg in seinem „Centralblatt“ einen flammenden Aufruf, auch, um „das ewige Feuer der Wissenschaft zu unterhalten“ ([55, 56]; Abb. 10). „Eine warme Vaterlandsliebe beseelte ihn. Politisch hielt er sich zurück, sein Deutschtum aber hat er hochgehalten, wo immer er weilte“, befand Oscar Fehr im Nachruf [2]. Und Wilhelm Mühsam ergänzte: „Um so tiefer empfand er es, dass der Krieg die völkerverbindende Brücke der Kultur zerstörte, noch tiefer aber, dass sein Ausgang den Zusammenbruch des von ihm heiß geliebten Vaterlandes bedeutete.“ [4] Man mag ihn deshalb heute als „Nationalisten“ bezeichnen, aber er war allein ein Sohn seiner Zeit. Er hatte, was den 1. Weltkrieg angeht, bereits 30 Jahre vorher, 1885, eine Ahnung gehabt, als er feststellte, dass „die Entfesselung der nationalen Leidenschaften vielleicht das Schlimmste ist, was Epimetheus-Napoleon aus seiner Pandorabüchse uns hinterlassen hat“ [52].

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Aufruf „Fürs Vaterland“, 1914 [55]

Julius Hirschbergs Bibliothek bestand aus etwa 3200 Büchern, 12.500 Sonderdrucken und historischen Dokumenten einschließlich seines Tagebuchs. Sie genoss legendären Ruf. Hirschberg schrieb im Vorwort des Katalogs 1901: „Die Büchersammlung ist, nach Meldung, den Fachgenossen zugänglich und soll dereinst durch Schenkung in den Besitz der Berliner med. Gesellsch. übergehen.“ [57] Es kam anders. Hirschberg zeichnete Kriegsanleihen, die nach 1918 wertlos wurden, wodurch er in finanzielle Bedrängnis geriet und sich gezwungen sah, seine Bibliothek im Dezember 1920 Jujiro Komoto (1859–1938) zum Kauf anzubieten. Vermutlich fand Hirschberg angesichts der Geldentwertung im Deutschen Reich ab 1921 keinen inländischen Abnehmer. Komoto nahm das Angebot an. Er hatte ab 1885 seine ophthalmologische Ausbildung in Freiburg, Würzburg und Berlin und dortselbst auch an der Hirschberg-Klinik erhalten [58, 59, 60], wie es zu damaliger Zeit überhaupt recht intensive Beziehungen zwischen der japanischen und der deutschen Augenheilkunde gab [61, 62]. „Deutsch ist die Lieblingssprache japanischer Aerzte“, wie Hirschberg 1894 in „Um die Erde“ schrieb [14]. Komoto, der auch zu Theodor Axenfeld (1867–1930) freundschaftliche Beziehungen unterhielt [61, 62], wurde 1890 in Tokio der erste Ordinarius für Augenheilkunde in Japan. Hirschberg besuchte ihn 1892 auf seiner Weltreise (Abb. 11). Nach dem Tod Komotos ging die Sammlung als Komoto-Hirschberg-Bibliothek in den Besitz der Universität Tokio über, wo sie sich heute noch befindet [8, 58, 59, 60]. Eine Anfrage des Autors bei der Universität Tokio vor einigen Jahren ergab, dass eine Rückführung der Hirschberg-Bibliothek nach Deutschland ausgeschlossen wird.

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Julius Hirschberg auf seiner Reise um die Erde im Kreise Tokioter Ärzte, September 1892. Jujiro Komoto vermutlich stehend ganz links. (Aus [14])

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