Eine 47-jährige Patientin wurde zur Evaluation einer möglichen Spravato-Therapie von einem niedergelassenen Facharzt für Psychiatrie an die psychiatrische Ambulanz der Medizinischen Universität Wien überwiesen. Bei der Patientin war zu diesem Zeitpunkt die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung bekannt und sie hatte den Entschluss gefasst, einen assistierten Suizid in Anspruch zu nehmen. Aufgrund der Annahme, dass in Österreich die Bewilligung durch zwei unterschiedliche ÄrztInnen erforderlich wäre, und die damit verbundenen Auflagen möglicherweise strenger und der Prozess langwieriger sein könnten, hatte sich die Patientin entschieden, einen assistierten Suizid über eine Organisation in der Schweiz in Anspruch zu nehmen und die logistischen Schritte bereits eingeleitet. Die Vorstellung beim niedergelassenen Psychiater erfolgte, da die Patientin von diesem eine Bestätigung zur Bewilligung des assistierten Suizids wünschte. Jener Psychiater stellte im Rahmen der Exploration fest, dass bei der Patientin in der Vergangenheit, entgegen der gegenwärtigen Leitlinien für die Behandlung einer therapieresistenten Depression [8], weder eine Ketamin‑/Esketamin-Therapie noch eine Elektrokonvulsionstherapie (EKT) durchgeführt wurden. Er überwies die Patientin daher an unsere Ambulanz zur erstmaligen Behandlung mit Esketamin i. n.
Es gab in der Vergangenheit der Patientin mehrere Therapieversuche mit diversen Antidepressiva, inklusive Venlafaxin, Mirtazapin, Sertralin, Escitalopram, Bupropion, Citalopram, Agomelatin, Trazodon, Duloxetin, sowie einen Augmentationsversuch mit Risperidon.
Zum Zeitpunkt des ersten Ambulanzkontaktes an unserer Klinik nahm die Patientin als Dauermedikation Mirtazapin 30 mg Tagesdosis (TD), Venlafaxin 150 mg TD und Pregabalin 100 mg TD ein. Im Rahmen einer Laboruntersuchung der jeweiligen Medikamentenspiegel im Blut zeigten sich die folgenden Werte: Mirtazapin 46,6 ng/mL (TB: 30–80 ng/mL), Venlafaxin 34,3 ng/mL (TB: 30–180 ng/mL) und O‑Desmethylvenlafaxin 237,7 (TB: 100–400 ng/mL).
Hinsichtlich früherer psychotherapeutischer Behandlungen gab die Patientin an, vor etwa 10 Jahren über einen Zeitraum von zwei Jahren regelmäßig an einer ambulanten Psychotherapie teilgenommen zu haben. Sie konnte jedoch nicht angeben, welche spezifische Therapieform angewendet wurde. Sie berichtete, dass sie keinerlei Besserung durch die Psychotherapie wahrgenommen und die Behandlung daher im weiteren Verlauf abgebrochen habe.
Die Patientin erhielt in weiterer Folge an der Wiener Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie eine Esketamin-Therapie i. n., bestehend aus insgesamt acht Verabreichungen. Aufgrund einer unzureichenden Response wurde schließlich eine stationäre Aufnahme zur weiteren Behandlung vereinbart und die Durchführung einer erstmaligen EKT-Serie in Betracht gezogen.
Biografische DatenDie Patientin wuchs als ältestes von insgesamt vier Kindern auf. Laut eigener Angaben habe sie bereits in der Kindheit kaum Freundschaften gehabt und generell sozial sehr zurückgezogen gelebt. Sie berichtete von sowohl psychischer als auch physischer Gewalt während ihrer Kindheit, welche bereits früh ein Gefühl der Macht- und Hilflosigkeit in ihr ausgelöst habe. Bereits im Alter von vier Jahren habe sie erstmals depressive Symptome bei sich wahrgenommen. Die Patientin berichtete insgesamt von mindestens drei depressiven Episoden in der Vergangenheit in Form eines rezidivierenden Verlaufs ohne Remission. In ihrem Leben habe sie lediglich einmalig eine halbjährige „gute Phase“ vor etwa 20 Jahren gehabt. Damals seien eine funktionierende Beziehung und ein erfüllender Job vorhanden gewesen. Seither habe die Patientin jedoch nicht mehr in einer Partnerschaft gelebt. Familiären Kontakt habe sie vor allem zu ihrer jüngeren Schwester gepflegt, ansonsten war das Verhältnis zu ihrer Familie eher ablehnend. Sie gab an, dass die zum Zeitpunkt der Aufnahme vorhandene depressive Symptomatik bereits seit über 2 Jahren durchgehend bestanden habe. Nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten in der Vergangenheit negierte die Patientin. Insgesamt habe es in der Vergangenheit der Patientin zwei Suizidversuche gegeben. Diese lagen etwa 10 Jahre zurück. Beide seien in Form einer Intoxikation mittels einer Kombination aus Zoldem und Alkohol erfolgt. Außerdem fanden sich in der Vergangenheit mehrere psychiatrisch-stationäre Voraufenthalte. 2022 kam es schließlich zu einer akuten Aggravierung der depressiven Symptomatik aufgrund von vermehrtem Stress im Berufsleben.
Psychopathologischer Status bei AufnahmeZum Zeitpunkt der Aufnahme zeigte sich die Patientin bewusstseinsklar, allseits voll orientiert. Auffassung, Konzentration und Mnestik waren grobklinisch unauffällig. Der Gedankenductus war im Tempo diskret beschleunigt, aber kohärent und zielführend. Es war keine produktiv-psychotische Symptomatik explorierbar. Laut Patientin habe eine generalisierte Angst bestanden. Keine Zwangsgedanken oder -handlungen. Die Patientin war weinerlich, Affizierbarkeit in beiden Skalenbereichen erschwert, aber möglich. Antrieb war subjektiv reduziert. Psychomotorik diskret gesteigert. Einschlaf- und Durchschlafstörungen vorhanden. Appetit unauffällig. Chronische Suizidgedanken vorhanden und Wunsch nach assistiertem Suizid in der Schweiz. Zum Zeitpunkt der Exploration waren keine unmittelbare Selbst- oder Fremdgefährdung fassbar.
Somatischer Status: unauffällig
Neurologischer Status: unauffällig
Somatische Vorerkrankungen: Hashimoto Thyreoiditis
DiagnostikDie Diagnostik wurde mittels ICD-10 und DSM-5 Kriterien durchgeführt. Zur störungsspezifischen Diagnostik wurden zudem die „Montgomery Asberg Depression Rating Scale“ (MADRS) und „AQ 50 – Autism Spectrum Quotient“ angewendet.
Stationärer Aufenthalt und BehandlungZum Zeitpunkt der stationären Aufnahme bestand als Dauermedikation Mirtazapin 30 mg TD und Pregabalin 150 mg TD. Das voretablierte Venlafaxin war von der Patientin inzwischen selbstständig abgesetzt worden. Aufgrund der starken inneren Unruhe und Ängstlichkeit der Patientin wurde Pregabalin schrittweise auf insgesamt 600 mg TD gesteigert. Als zusätzliche antidepressive Augmentationstherapie wurde Aripiprazol begonnen und auf 10 mg TD gesteigert. Zusätzlich wurde als antidepressive Therapie und zur Behandlung der Ängstlichkeit Escitalopram etabliert und auf 15 mg TD erhöht. Die Patientin berichtete darunter von einer Reduktion ihres ängstlichen Grübelns. Neben der Adaption der psychopharmakologischen Medikation erfolgten zudem im Rahmen des Aufenthalts regelmäßig psychotherapeutische Einzelgespräche (siehe Abb. 1).
Abb. 1Zeitlicher Verlauf der Medikamentenänderungen und EKT-Behandlungen ab stationärer Aufnahme
Die Patientin willigte schließlich im weiteren Verlauf neben der psychopharmakologischen Umstellung und den psychotherapeutischen Gesprächen in eine erstmalige Elektrokonvulsionstherapie ein und erhielt insgesamt 10 Behandlungen. Nach Beendigung der Serie zeigte ein erneut durchgeführter MADRS eine Reduktion des Gesamtwerts auf 18 Punkte im Vergleich zum Aufnahmetag (38 Punkte) (siehe Abb. 2).
Abb. 2MADRS Gesamtpunktezahl der Patientin Prä- und Post-EKT
Insbesondere die Items „Innere Anspannung“, „Konzentrationsschwierigkeiten“, „Untätigkeit“, „Gefühlslosigkeit“, „Pessimistische“- und „Suizidgedanken“ zeigten einen Rückgang (siehe Abb. 3). Insgesamt wurde bei der Patientin auch innerhalb des Teams eine reduzierte Anspannung und verbesserte Affizierbarkeit wahrgenommen, dennoch blieb der Sterbenswunsch der Patientin unverändert erhalten.
Abb. 3Erreichte Punkte der Patientin bei den einzelnen Items des MADRS Prä- und Post-EKT
Im Rahmen des stationären Aufenthalts erfolgte des Weiteren eine klinisch psychologische Testung. Diese zeigte eine überdurchschnittlich gute intellektuelle Leistungsfähigkeit, keinerlei kognitive Beeinträchtigungen, eine unauffällige allgemeine unspezifische Leistungsfunktion, sowie einen unauffälligen Gedächtnisbefund. State- und Trait-Angst waren jedoch stark erhöht. Es waren zudem hypochondrische Tendenzen fassbar und es fanden sich schizoid vermeidend-unsichere und zwanghafte Persönlichkeitsanteile. Im AQ 50-Autism Spectrum Quotient erreichte die Patientin 32 Punkte, was mit einer 80 % Wahrscheinlichkeit für eine Autismus-Spektrum-Störung spricht. Zum Ausschluss etwaiger zugrunde liegender organischer Ursachen erfolgte zudem eine Magnetresonanztomographie (MRT), die einen unauffälligen Befund zeigte.
Während des stationären Aufenthalts kam es zu mehreren ausführlichen explorativen und diagnostischen Gesprächen. In diesen erzählte die Patientin unter anderem über ihre traumatisierende Kindheit, während der sie psychische und physische Misshandlungen erlitten habe und gab an, über dies bisher noch niemals mit jemanden gesprochen zu haben. In weiterer Folge wurde im Rahmen der psychotherapeutischen Gespräche auch Psychoedukation zum Thema Trauma geführt und versucht, die Patientin zu einer weiterführenden Traumatherapie zu motivieren. Dies lehnte die Patientin jedoch mit der Begründung ab, sich bereits für einen assistierten Suizid entschieden zu haben.
Diagnostisch lag bei der Patientin am ehesten eine ängstlich-agitierte depressive Symptomatik vor. Die Patientin erfüllte die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS: Schlafstörungen, vegetatives Hyperarousal u. Schreckhaftigkeit, vermehrte Angst) mit andauernder Persönlichkeitsänderung (F62.0). Sie zeigte hierbei jedoch zahlreiche Ressourcen, war kommunikativ, konnte komplexe Informationen rasch verarbeiten und zeigte sich im Rahmen des stationären Settings stets verlässlich. Auffallend waren jedoch ihre wiederholt geäußerten Sorgen, sie würde mit ihrem Krankenhausaufenthalt und der Therapie dem Gesundheitssystem zur Last fallen oder anderen PatientInnen, die ihrer Ansicht nach dringlicher Hilfe benötigten, den Platz wegnehmen. Zudem äußerte sie wiederholt in einem inneren Konflikt zu stehen, inwieweit sie ihre Familie hinsichtlich ihres Vorhabens informieren solle.
Weiterer VerlaufNach Beendigung der EKT-Serie entließ sich die Patientin gegen ärztlichen Rat schließlich selbst. Trotz wiederholter Versuche die Patientin an eine ambulante Psychotherapie zu vermitteln, lehnte sie dies beharrlich ab. Sie wurde schließlich von unserer Seite hinsichtlich der Vorstellung ihres Falles im Rahmen einer klinikinternen Fallkonferenz kontaktiert und erklärte sich nicht nur dazu bereit, dass dieser besprochen werden dürfe, sondern sie auch persönlich daran teilnehmen wolle. So folgten vorab zunächst mehrere weitere Ambulanzkontakte. Darin berichtete die Patientin ihre verordnete psychopharmakologische Medikation unmittelbar nach der stationären Entlassung zur Gänze abgesetzt zu haben. Als Motivationsgrund für ihre Teilnahme an der Fallkonferenz gab sie an, dass sie gerne alles dafür tun wolle, um noch einen wissenschaftlichen Beitrag leisten zu können und unterzeichnete eine Einverständniserklärung zur Publikation ihres Fallberichts. So erklärte sie sich in weiterer Folge auch bereit, einen off-label Therapieversuch mit Clozapin zu starten, für welches in der Literatur eine antisuizidale Wirksamkeit beschrieben ist [9]. Es erfolgte eine Dosissteigerung auf insgesamt 100 mg TD. Die weitere Therapie wurde jedoch von der Patientin nach nur wenigen Wochen wieder beendet und sie benachrichtigte uns per E‑Mail, dass sie den assistierten Suizid wie geplant in der Schweiz in Anspruch nehmen werde. Die Patientin verstarb zwei Monate nach dem letzten ambulanten Kontakt in der Schweiz.
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