Dissoziative Anfälle in der Notaufnahme – Diagnosestellung und Behandlung

Die Diagnose dissoziativer Anfälle in der Notaufnahme wird im Regelfall anhand der Anfallssemiologie, des Untersuchungsbefundes und der Anfallsanamnese gestellt. Apparative Zusatzuntersuchungen wie die Laboranalytik, das Elektroenzephalogramm (EEG) und die zerebrale Magnetresonanztomographie (MRT) dienen v. a. dem Ausschluss von Differenzialdiagnosen.

Die Situation in der Notaufnahme ist von einem hohen Handlungsdruck geprägt. Dissoziative Anfälle haben eine sehr vielfältige Semiologie, je nach Manifestationsform ist die Diagnose daher mehr oder weniger „schnell“ bzw. eindeutig. Die häufigsten Differenzialdiagnosen sind der epileptische Anfall und die konvulsive Synkope [11]. In der Akutsituation ist entscheidend, ob sich der Patient bei Eintreffen in der Notaufnahme immer noch oder wieder im Anfall befindet oder ob der Anfall bereits vorbei ist. Solange der Anfall andauert, sind die präzise Anfallsbeobachtung und die aktive Untersuchung im Anfall der Schlüssel zur Diagnose. Hat der Anfall bereits sistiert, stützt sich die Diagnose maßgeblich auf die Fremd- und Eigenanamnese.

Anfallssemiologie

Zur Anfallssemiologie gehören die subjektiven Anfallssymptome und die klinisch objektivierbaren Anfallszeichen. Über die letzten Jahrzehnte wurden klinische Merkmale identifiziert, die für das Vorliegen dissoziativer Anfälle sprechen und zum Teil mit einer hohen Spezifität epileptische Anfälle ausschließen können (Tab. 1; [22]). Dabei gilt es zu beachten, dass kein klinisches Merkmal für sich allein die Diagnose eines dissoziativen Anfalls zulässt [22]. Erst das gemeinsame Auftreten verschiedener semiologischer Zeichen ermöglicht die Diagnose. Die Eindeutigkeit der Diagnose hängt daher eng mit der Anfallsmanifestation zusammen. So spricht beispielsweise das Zusammenspiel aus zugekniffenen Augen, schlagenden Hin-und-her-Bewegungen und fluktuierendem Anfallsverlauf mit hoher Sicherheit für einen dissoziativen Anfall. Dissoziative Anfälle können sich jedoch auch ohne eindeutige Merkmalkonstellationen manifestieren, was die Diagnosefindung erschwert – zumal die sichere Identifikation klinischer Anfallszeichen, wie z. B. Kloni, Myoklonien oder eine Dystonie, Erfahrung in der klinischen Befundinterpretation voraussetzt. Daher ist neben der Anfallsbeobachtung auch die aktive Untersuchung des Patienten im Anfall wichtig. Dabei wird der Patient zunächst angesprochen, um ihm die aktuelle Untersuchungssituation zu erläutern (s. auch Tab. 5 zur Anfallsbegleitung). Wichtige Hinweise für das Vorliegen eines dissoziativen Anfalls liefern die Modulierbarkeit des Anfalls sowie die körperlichen Reaktionen auf die Untersuchung (Tab. 1; [17, 22]).

Tab. 1 Klinische Zeichen, die deutlich auf einen dissoziativen Anfall hinweisen

Abseits der Anfallszeichen ist der neurologische Untersuchungsbefund bei ausschließlich dissoziativen Anfällen unauffällig. Ein fokal neurologisches Defizit oder anderweitig auffälliges klinisches Zeichen erfordert – unabhängig von der Diagnose eines dissoziativen Anfalls – immer eine weitere Abklärung, um eine mögliche komorbide Störung zu erkennen.

Anfallsanamnese

Ist der Anfall bereits vorbei, stützt sich die Diagnose auf die Anfallsanamnese. Da der Patient meist nicht den kompletten Anfall erinnert, ist man hier auf die Fremdbeschreibung des Anfalls angewiesen. Bei der Interpretation der Fremdanamnese muss berücksichtigt werden, dass die Anfallsbeobachtung häufig lückenhaft ist und hochgradig von der Erfahrung des Beobachters abhängt [17]. Eine Beschreibung des Anfalls in eigenen Worten ist dabei aufschlussreicher als die vorschnelle Übersetzung in medizinische Fachbegriffe, die die Gefahr einer Fehlinterpretation der eigentlichen klinischen Merkmale birgt. Deshalb sollten die häufig telegrammartigen Anfallsbeschreibungen („tonisch-klonischer Anfall“) des Rettungsdienstes nicht unkritisch übernommen werden.

Neben der Fremdanamnese geben auch das subjektive Anfallserleben mit möglichen Hinweisen auf bereits präiktal erlebtes emotionales Arousal oder dissoziative Phänomene sowie die Analyse der Anfallsschilderung Aufschluss über die Diagnose (Tab. 2; [4]). Menschen mit einem dissoziativen Anfall beschreiben meist die äußeren Umstände des Anfallsereignisses und weniger ihre körperlichen Symptome, wohingegen Menschen mit Epilepsie häufig darum ringen, so präzise wie möglich ihr Erleben vor, während und nach dem Anfall in Worte zu fassen [14].

Tab. 2 Subjektives Anfallserleben dissoziativer AnfälleZusatzuntersuchungenElektroenzephalogramm

Ein iktales EEG, d. h. die parallele Ableitung des EEGs zum Anfall, ist im Falle eines nicht eindeutig zuzuordnenden Anfallsbilds der Goldstandard in der Diagnostik [9]. In der Notaufnahme spielt das iktale EEG aber eine nachgeordnete Rolle – zum einen, weil die Ableitung eines EEGs in einigen Notaufnahmen schlichtweg nicht möglich ist, zum anderen, weil die Diagnose dissoziativer Anfälle in vielen Fällen bereits anhand der genannten klinischen Merkmale eindeutig gestellt werden kann. Nichtsdestotrotz gibt es Konstellationen, bei denen das iktale EEG entscheidend ist. Dies betrifft insbesondere die Abgrenzung dissoziativer Anfälle mit dem Leitsymptom eines Mutismus/Stupors von einem nonkonvulsiven Status epilepticus sowie die Gruppe der Menschen mit dissoziativen Anfällen und komorbider Epilepsie (s. dissoziative Anfälle plus Epilepsie).

Je zeitnaher ein EEG zu einem epileptischen Anfall abgeleitet wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich epilepsietypische Potenziale finden [8]. In diesem Sinne ist ein rasch abgeleitetes postiktales EEG diagnostisch nützlich. Der Befund des interiktalen EEGs ist aber nur ein Puzzleteil in der Diagnosefindung und muss immer in den Gesamtkontext eingeordnet werden, da weder ein Normalbefund noch der Nachweis epilepsietypischer Potenziale die Diagnose beweisen oder ausschließen. Darüber hinaus ist die EEG-Befundung untersucherabhängig und das Risiko einer Fehlinterpretation hoch [1]. Vor diesem Hintergrund sollten interiktale EEG-Befunde im Gesamtkontext nicht überbewertet und kritisch hinterfragt werden.

Laboranalytik

Laborwerte können in der Abgrenzung zu bilateral/generalisierten tonisch-klonischen epileptischen Anfällen hilfreich sein, nicht jedoch zu Synkopen oder fokalen epileptischen Anfällen (Tab. 3; [2, 15, 25]).

Tab. 3 Differenzialdiagnostisch relevante LaboranalytikBildgebung

Grundsätzlich ist bei Diagnose eines dissoziativen Anfalls in der Notaufnahme keine akute Bildgebung nötig. Bei einem auffälligen neurologischen Untersuchungsbefund hat zeitnah eine zerebrale Bildgebung zu erfolgen, um eine akute komorbide Störung auszuschließen. Bei Erstauftreten eines dissoziativen Anfalls ermöglicht eine zerebrale MRT im Verlauf den Ausschluss einer komorbiden Störung.

Anfallsvideos

Aufgrund der genannten Limitationen der Anfallsfremdbeschreibung ist die Aufzeichnung eines Anfallsvideos für die Diagnosestellung enorm hilfreich. In Kombination mit der Anamnese und der klinisch-neurologischen Untersuchung gelang Experten nach fachkundiger Auswertung von Anfallsvideos in 95 % der Fälle eine korrekte Diagnosestellung [23]. Ein Anfallsvideo von einem Erstereignis liegt zwar selten vor, wird jedoch zunehmend bei Folgeanfällen durch Angehörige oder Freunde angefertigt. Deshalb sollte nach einem möglichen Anfallsvideo immer aktiv gefragt werden bzw. zu dessen Anfertigung bei zukünftigen Anfallsereignissen angeregt werden. Die Erfassung diagnostisch relevanter Merkmale durch die Videoaufzeichnung wird signifikant verbessert, wenn Angehörige und Freunde entsprechend geschult werden. Von der Deutschen Epilepsievereinigung gibt es hierzu einen Informationsflyer (https://www.epilepsie-vereinigung.de/wp-content/uploads/2021/07/Faltblatt-Anfaelle-Angehoeriger-dokumentieren.pdf).

Dissoziative Anfälle plus Epilepsie

Etwa 7 % der Menschen mit dissoziativen Anfällen haben eine Epilepsie, dabei manifestiert sich die Epilepsie nahezu immer zuerst [24]. Bei komorbidem Auftreten von dissoziativen Anfällen und einer Epilepsie ist das Risiko einer Fehldiagnose und -behandlung besonders groß. Um eine vorschnelle Fehlzuordnung jeden Anfalls als epileptisch zu vermeiden, ist es daher wichtig, auch bei Menschen mit Epilepsie das Auftreten zusätzlicher dissoziativer Anfälle in Betracht zu ziehen. Insbesondere eine neuartige Anfallspräsentation, sei es im Hinblick auf die Semiologie, die Frequenz oder auch den Anfallszeitpunkt, kann auf dissoziative Anfälle hindeuten [12]. Die Semiologie dissoziativer Anfälle bei komorbider Epilepsie kann der Semiologie der habituellen epileptischen Anfällen teilweise ähneln [19]. In diesen Fällen ist das iktale EEG die entscheidende apparative Zusatzuntersuchung.

Umgang mit diagnostischer Unsicherheit

In einigen Fällen wird es gar nicht möglich sein, die Diagnose bereits in der Notaufnahme sicherzustellen. Unsicherheiten an der Diagnose sollten unabhängig von den in der Akutsituation eingeleiteten Behandlungsschritten und Arbeitshypothesen transparent dokumentiert werden. So sollte der vermeintliche Erfolg einer medikamentösen Anfallsunterbrechung nicht retrospektiv zur Diagnose eines epileptischen Anfalls führen. Vorschnelle „festgeschnürte“ Diagnosen in der Notaufnahme bergen das Risiko von lebenslangen Fehldiagnosen und -behandlungen.

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